Lesenswert – Studenten und Alte Herren im kolonialen Rausch

Das hier in Rede stehende Buch ist der Text einer Dissertationsschrift, der für die Veröffentlichung offenbar nur marginal (wenn überhaupt) verändert wurde. Dem Charakter einer wissenschaftlichen Arbeit entsprechend, ist der Literatur- und Quellenapparat umfassend und erschöpfend. Und so verwundert es nicht, dass die vorhergehende akademische Aufbereitung des eigentlichen Gegenstands der Abhandlung sehr lang und nur mühsam zu erschließen ist (ein Lehrbeispiel für alle jene, die vor Plagiat-Jägern gefeit sein wollen).

Bei den weiteren Ausführungen zur Herleitung des Themas – Burschenschaften und Kolonialismus – wird allmählich aber auch klar, warum es dieses langen Anlaufs zudem bedarf. Er ist schlicht notwendig, weil die Bedeutung studentischer Burschenschaften für die Verbreitung und soziale Verankerung des Kolonialgedankens in Deutschland angesichts der gemessen an der Gesamtstudentenzahl eher kleinen Anzahl von Burschenschaftern ernsthafte Zweifel an der politischen Relevanz der untersuchten Bevölkerungsgruppe aufkommen lässt – darauf wird zurückzukommen sein.

Das Buch gliedert sich in neun Kapitel, von denen sich sechs chronologisch mit den Burschenschaften und deren Befassung mit kolonialen und imperialen Themen – von der Ur-Burschenschaft in Jena 1815 über die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848/49, die Reichgründung, den ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik bis in die Gegenwart – auseinandersetzen. Das Hauptkapitel (5) umfasst die Wilhelminische Kaiserzeit.

Bohne verfolgt sein Thema mit Feuereifer und Akribie. Bei den maßgeblichen Burschenschafter-Publikationen – insbesondere den burschenschaftlichen Blättern und den Veröffentlichungen der Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung – lässt er faktisch keine Seite unberührt, keinen Artikel ungelesen und undokumentiert. Auf der Basis dieser und anderer Quellen zeichnet er ein detailreiches Bild der politischen Debatten unter den Burschenschaftern – jedenfalls soweit diese schriftlich dokumentiert sind und die Themen Kolonialismus, Imperialismus und auch Rassismus sowie Antisemitismus betreffen. Was die aufgeführten „-ismen“ genau bedeuten, kümmert den Autor erstaunlich wenig. Dieses Herangehen hat jedoch den Vorzug, dass eher großzügig bei der Zuordnung der Einzelaussagen vorgegangen werden kann.

Darüber hinaus liefert Bohne ein sehr plastisches Bildnis dessen, was die berüchtigte „deutsche Vereinsmeierei“ tatsächlich bedeutete. Insbesondere zeichnet er lebhaft nach, wie und warum die vielfältigsten Vereine – Alldeutscher Verband, Flottenvereine, Schulvereine, Kolonialgesellschaften etc. – emsig um die Mitgliedschaft von bzw. Unterstützung durch die Burschenschafter warben – weil damit die studentische Jugend in die Interessenwelt der etablierten Eliten eingebunden werden sollte. Wahrscheinlich gab es in der Hochzeit des Wilhelminischen Kaiserreichs sogar mehr Vereine als in der heutigen Hochzeit der Nichtregierungsorganisationen.

Welche Rollen nehmen die Burschenschafter bei der Produktion und Verbreitung von kolonialen und imperialen Ideen nun aber tatsächlich ein? Auch dafür liefert Bohne eine Fülle von Anhaltspunkten.

Wichtig für die Beurteilung der Rolle von Burschenschaften in den einschlägigen Kolonialkampagnen ist es zunächst zu klären, was Burschenschaften eigentlich sind, worin ihre soziale Funktion besteht.

Burschenschaften sind im Kern „Karrierenetzwerke“, die auf der Grundlage des „Lebensbund- und Freundschaftsprinzips“ [S. 352 passim] („einmal Mitglied, immer Mitglied“) eine dauerhafte Verbindung zwischen aufstrebenden Studenten aus dem protestantischen Besitz- und Bildungsbürgertum mit jenen („Alten Herren“) schafft, denen es bereits gelungen ist, insbesondere in die staatliche Verwaltung und dort vor allem in die Hochschulprofessorenschaft aufzusteigen. Die Diplomatie war im kaiserlichen Deutschland vor allem ein Betätigungsfeld des wirtschaftlich unbedeutend gewordenen alten Feudaladels, aufgefüllt von Studenten, die sich in Corps – nicht in Burschenschaften – organisierten.

In einem solchen Bund, der den Aufstieg in den Staatsdienst zum Ziel hat [vgl. S. 267], kommt es daher weniger darauf an, eigene Ideen zu entwickeln und zu propagieren, sondern viel mehr in den jeweils politisch relevanten Debatten mitzumischen. Und so verwundert es natürlich nicht, dass an der Kolonialdebatte „…auch Burschenschafter teil(nahmen)“ [S. 93]. Viele der besonders in diesem Metier aktiven Studenten/Burschen hatten zudem noch familiäre Vorprägungen, weil zum Beispiel bereits der Vater kolonialpolitisch aktiv war – wie Bohne am Beispiel Heinrich von Gagerns bzw. Hans-Christoph von Gagerns [S. 100f.] zeigt. Insgesamt waren die Burschenschafter aber in der Mehrzahl Mitläufer und Propagandisten kolonial-imperialer Ideen – stets in der Hoffnung, dass dies der persönlichen Karriere dienlich sei. Sie waren in der Regel „…nicht in der ersten, wohl aber in der zweiten Reihe der Kolonialakteure“ [S. 420].

Besondere Bonmots liefert der Buchautor mit seinen Kurzbiographien besonders kolonialaffiner Burschenschafter-Gestalten, wie Carl Peters (der allerdings nur sehr kurz einer Burschenschaft angehörte) oder Eduard Karl Oskar Theodor Schnitzer (alias Emin Pascha), Hans Wagner, Theobald Fischer, Ernst Mackensen u.a. Überhaupt fördert die akribische Dokumentation von Reisen nach Afrika, Asien oder Lateinamerika viel Interessantes und auch manch Kurioses zutage.

Insgesamt haben die Burschenschafter – deren Anteil selbst in Hochzeiten wohl nie mehr als 15 bis 20 Prozent aller in Korporationen organisierten Studenten [vgl. S. 130] (oder zwischen 4,5 und 6,6 Prozent der gesamten Studentenschaft [vgl. 155]) ausmachte – sehr wohl koloniale und imperiale Ideen verbreitet und viele waren wohl auch antijüdisch eingestellt (worauf Bohne stets großes Augenmerk legt). Bis auf wenige Ausnahmen waren sie aber keine herausragenden Akteure bzw. Architekten der imperialen kaiserlich-deutschen Kolonialpolitik. Das ist eine zentrale These des Buches.

Andreas Bohne hat in einer umfangreichen Milieustudie mit großem Eifer und viel Aufmerksamkeit für selbst kleinste Details einen nicht unwichtigen Teilzweig der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend erschlossen. Es bleibt dem Buch zu wünschen, dass es die gebührende Aufmerksamkeit unter den akademischen Historikern und den Studenten der Geschichts- und Regionalwissenschaft findet. Für den am deutschen Kolonialismus und Imperialismus interessierten Laien bleibt das Werk jedoch ein sperriger Text, dessen Lektüre viel Durchhaltevermögen erfordert.

Arndt Hopfmann

Zum Buch:

Andreas Bohne, Studenten und Alte Herren im kolonialen Rausch. Burschenschaften und Kolonialismus vom Vormärz bis zur Gegenwart, [transcritpt] Verlag Bielefeld 2024, 471 Seiten (ISBN 978-3-8376-6882-7; 58,00 EUR)