Ngugi wa Thiong’o1938 – 2025

Gedanken eines Lesers zum Tod des Literatur-„Nobelpreisträgers der Herzen“1

von Hans-Peter Puffky

Am 28. Mai 2025 starb der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o – für den Freund afrikanischer Literatur ein beklemmender Anlass, um ins eigene Bücheregal zu greifen und wieder einmal in dessen Romanen zu blättern; für jeden Besucher dieser Webseite ein aktueller Grund, sich mit dem Leben eines „Giganten der afrikanischen Literatur“2 vertraut zu machen, dem in 50 Sprachen übersetzten Autor von mehr als 40 Romanen und anderen literarischen Werken.3

Ngugi wa Thiong’o wurde am 5. Januar.1938 in einem Dorf in der Nähe von Limuru, nördlich von Nairobi,

der Hauptstadt Kenias, damals britische Kolonie, geboren. Er war eines von 28 Geschwistern einer polygamen Familie; er war das fünfte Kind seiner Mutter, der dritten von vier Frauen seines Vaters Thiong’o wa Nducu. Es war seine Mutter, die dem Jungen unter widrigen Umständen eine Hose und ein Hemd besorgte und einen Schulbesuch ermöglichte. Dafür empfand er ihr gegenüber schon

 
Welch‘ ausdrucksstarkes Bild der Wortgewalt des Autors!
Ngugi wa Thiong’o während einer Buchlesung
Bild: www.pulse.com.gh/articles/news/ngugi-wa-thiongo-
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als kleiner Junge, der Bildung mit Zukunft gleichsetzte, tiefe Dankbarkeit – und diese Zukunft sollte ihn zu vierzehn Ehren-Doktor-Titeln und Professuren an Universitäten auf vier Kontinenten führen.

Die Familie gehörte dem Volk der Kikuyu an, der größten Ethnie in Kenia. Die Kikuyus waren die Hauptakteure im antikolonialen Kampf gegen die Briten, der in den 1950er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Mau-Mau-Aufstand gipfelte und die Herrschaft der weißen Siedler erschütterte. Zwangsläufig wurde die Familie Thiong’o in die blutigen Auseinandersetzungen verwickelt. Das Dorf seiner Geburt, Kamirithu, wurde dem Erdboden gleichgemacht. Die Mutter wurde gedemütigt und gefoltert, ein Bruder kam als Mau-Mau- Kämpfer ums Leben, ein Bruder kämpfte auf der Seite der Briten, ein anderer war ein Polizei-Spitzel und ein weiterer wurde erschossen, weil er eine Anweisung eines Kolonialbeamten nicht befolgt hatte – er hatte sie nicht gehört, denn er war taub. So war es nur folgerichtig, dass diese Ereignisse zu einem der Haupthemen seines literarischen Schaffens wurden. In seinem Erstlingswerk „Weep not, Child“, 1964, (deutsch „Abschied von der Nacht“, 1969), das sofort ein internationaler Erfolg wurde, schildert er die Verwicklungen seiner Familie in den Mau-Mau-Aufstand. Der Kampf gegen den Kolonialismus, den Neokolonialismus und – nach der Unabhängigkeit des Landes – der Kampf gegen die Korruption, die Misswirtschaft und die fortgesetzte Ausbeutung durch die neuen Machthaber im jetzt unabhängigen Kenia, blieben seine Themen. Seine fortgesetzte und konsequente Gesellschaftskritik führte letztlich dazu, dass ihm die Professur an der Universität Nairobi entzogen und er 1977 für ein Jahr inhaftiert wurde.

Im Gefängnis vollzog er eine entscheidende Wende in seinem literarischen Schaffen: er entschloss sich, zukünftig nicht mehr in Englisch, der „kolonialen“ Sprache, sondern in seiner Muttersprache Kikuyu4 zu schreiben. Damit hat Ngugi die Frage für sich beantwortet: Sollte ein (afrikanischer) Schriftsteller in einer Weltsprache schreiben und dadurch vielleicht ein größeres Publikum erreichen, dafür aber von seinem eigenen Volk nicht verstanden werden; oder aber sollte er in der Muttersprache schreiben und damit eventuell ein unbedeutender Lokalschriftsteller bleiben?

Diese Abkehr von der englischen Sprache war die (möglicherweise überspitzte) Fortsetzung seiner zutiefst antikolonialen Haltung. Schon Jahre zuvor hatte er mit der gleichen Begründung seinen christlichen Geburtsnamen James Ngugi abgelegt und den Namen Ngugi wa Thiong’o angenommen. Gleichzeitig entwickelte er eine zunehmende Distanzierung vom Christentum, das er als Verbündeten des Kolonialismus betrachtete und eine Hinwendung zur afrikanischen Kultur und Tradition.

Bei der Umsetzung seines soeben im Gefängnis gefassten Entschlusses produzierte Ngugi nebenher unbeabsichtigt eine immer wieder als Anekdote erzählte Kuriosität: Während seines Gefängnisaufenthaltes schrieb er den Roman „Teufel am Kreuz“ („Devil on the Cross“) auf dem einzigen ihm zur Verfügung stehendem Papier – auf Toilettenpapier.

Nach dem Gefängnis blieb ihm nur das Exil, zunächst in England und dann bis zu seinem Tod in den USA. Aus dem Exil kehrte er erst 2002 besuchsweise zurück, nachdem Präsident Daniel Arap Moi gestorben war, der Ngugis Inhaftierung damals betrieben hatte.

Nachdem er bereits 1964 mit „Weep not, Child“ internationale Aufmerksamkeit erzielt hatte und seine nachfolgenden Romane nicht weniger erfolgreich waren, wurde Ngugi wa Thiong’o immer wieder als Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis ins Gespräch gebracht. Aber Jahr für Jahr ging er leer aus und die Ironie des Schicksals wollte es, dass ein anderer Schriftsteller, den Ngugi mit seinem Schaffen beeinflusst hatte, der Nigerianer Wole Soyinka, 1986 den Preis erhielt, nicht aber er5. Seine erneute Nicht-Nominierung wurde 2021 besonders heftig diskutiert, als völlig überraschend der – bei allem Respekt – vergleichsweise unbekannte Abdulrazak Gurnah ausgezeichnet wurde. Gegen dessen Auszeichnung brachten die Unterstützer Ngugis abseits von literarischen Argumenten u.a. vor, Gurnah sei weder Tanzanier, noch Afrikaner, sondern ein Araber, der zwar in Zanzibar geboren sei, die Insel aber bereits als Kind für immer verlassen habe. Nun, darüber kann man denken, wie man will. Die Öffentlichkeit wird nie die Gründe erfahren, die zu der Entscheidung geführt haben. Niemand kann hinter die Kulissen des Konklaves des Nobelpreis-Komitees schauen.

Ngugi wa Thiong’o jedenfalls trug die Entscheidung mit Humor. Nach deren Verkündung trat er aus seinem Haus vor die dort wartenden Journalisten und erklärte ihnen mit einem Lächeln, es tue ihm leid, dass sie umsonst hätten warten müssen.  

Nun ist er in seiner Wahlheimat USA gestorben und noch im Tod hörte er nicht auf, gesellschaftspolitische Fragen aufzuwerfen. Er hatte zur Verwunderung nicht nur seines Familien- und Freundeskreises verfügt, dass sein Leichnam eingeäschert werden soll. Damit hat er afrikanische Begräbnisrituale und genau die Tradition und Kultur negiert, für die er sich in seinen Romanen so entschieden eingesetzt hat.

Im Feuilleton und auf den Literaturseiten aller großen Zeitungen weltweit ist der Schriftseller Ngugi wa Thiong’o anlässlich seines Todes ausführlich, z.T. ganzseitig, gewürdigt worden. Aus Deutschland seien zwei Nachrufe betrachtet:

die ersten deutschsprachigen Ausgaben seiner Romane,
Berlin 1969, 1970, 1971, im Besitz des Verfassers
Bild: privat

Der Spiegel engt seine Betrachtung der Rezeption der Werke Ngugis in Deutschland leider auf die westdeutsche Perspektive ein. Er schreibt, Die Zeit habe schon 1979 über Nobelpreisspekulationen berichtet und diese hätten dann dem Autor „zu einer gewissen Bekanntheit und einer überwiegend positiven Besprechung seiner Bücher, die nun auch in deutscher Übersetzung erschienen“6, verholfen. Weiter schreibt der Spiegel: „Einige Bücher Ngugi wa Thiong’os sind auf Deutsch erschienen, neben »Herr der Krähen« auch »Verbrannte Blüten« oder »Träume in Zeiten des Krieges«. 2022 veröffentlichte der Unrast Verlag den Essayband »Dekolonisierung des Denkens«“.
Eine derartige Berichterstattung ist eines vorgeblich renommierten Nachrichtenmagazins – man muss es so deutlich sagen – unwürdig. Dabei hätte den Spiegel-Autoren schon ein einfacher Blick in die Registratur der Deutschen Nationalbibliothek gereicht, um zu sehen, dass bereits
– 1969 im Verlag Volk und Welt der DDR „Abschied von der Nacht“ („Weep not, Child“) und dann im Jahresrhythmus weitere Werke von ihm in Verlagen der DDR erschienen sind;
– 1970 im Verlag Neues Leben „Der Fluss dazwischen“ (The River Between),
das Buch wurde erst 14 Jahre später (!) in München herausgegeben,
– 1971 im Verlag Volk und Welt „Der Preis der Wahrheit“ (A Grain of Wheat),
– 1977 im Verlag Volk und Welt „Verborgene Schicksale“ (Secret Lives)
– 1980 im Verlag Volk und Welt „Land der flammenden Blüten“ (Petals of blood).
Der erste westdeutsche Eintrag ist mit 1979 datiert „Freiheit mit gesenktem Kopf“, Verlag Walter in Olten (Schweiz) und Freiburg im Breisgau.
Das hätte Der Spiegel mit etwas journalistischer Sorgfalt recherchieren können!

Demgegenüber berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung7 wahrheitsgemäß und nennt zugleich die Ursachen: „Als Teenager erlebte er Grausamkeiten: Während der Mau-Mau-Aufstände gegen die britische Kolonialherrschaft wurden engste Verwandte gefangen genommen, gefoltert, getötet. Davon erzählt ‚Weep not, Child‘, und weil aus diesem Buch eine der ersten literarischen Stimmen des postkolonialen Afrikas erklang, erschien die deutsche Übersetzung nicht in der Bundesrepublik, sondern in der DDR: als ‚Abschied von der Nacht‘… Abschied nahm Ngugi später vom Englischen; seit 1978 schrieb er auf Kikuyu. Da im deutschen Sprachraum keine Übersetzer dafür zu finden waren, wurden seine Bücher weiterhin aus dem Englischen übersetzt, seit 1979 dann auch im Westen – und zwar in konkurrierenden Übersetzungen zu denen der DDR.“

Buchladen in Dar-es-Salaam, Tanzania
unter seinem Bild sein Buch „Petals of Blood“, (Land der Flammenden Blüten)
Bild: www.jamiiforums.com/threads/kutoka-james-ngugi-hadi-
ngugi-wa-thiongo.2345651/

Abschließend kann man feststellen, dass Ngugi wa Thiong’o zu den in der DDR meistpublizierten afrikanischen Autoren zählt und sich angesichts der Vielzahl seiner veröffentlichten Bücher nicht nur „einer gewissen“ (Der Spiegel), sondern großer Bekanntheit unter der literarisch interessierten Bevölkerung der DDR erfreute.

Fußnoten

1    Der Spiegel. 29.05.2025 (14:55 Uhr).

2    The Guardian. London, 28.05.25.

3    Angesichts des beschränkten Raumes, der zur Verfügung steht, werden hier nur einige wenige biografische Angaben erwähnt, die aber entscheidenden Einfluss auf sein Leben und sein literarisches Schaffen hatten. Seine Biografie kann leicht nachgeschlagen werden.

4    Eigenbezeichnung Gĩkũyũ; hier wird die zur Bezeichnung von Bantusprachen übliche Vorsilbe Ki- verwendet.

5    Alan Cowell, New York Times, 30.05.2025, Ngugi wa Thiong’o is Dead at 87¸ Condemned Colonists and Elites.

6    Der Spiegel. 29.05.2025 (14:55 Uhr) https://www.spiegel.de/kultur/literatur/ngugi-wa-thiongo-ist-tot-kenianischer-schriftsteller-war-oft-nobelpreiskandidat-a-664188b3-0d81-4827-b626-af6a3c60974b.

7    Andreas Platthaus, Zum Tod des kenianischen Autors Ngũgĩ wa Thiong’o,
FAZ, 29.05.2025 (15:14 Uhr).