…ist ein zero-one-Film von Lars Kraume aus dem Jahre 2023, Länge 116 Minuten
ZDF-Mediathek: https://www.zdf.de/filme/der-fernsehfilm-der-woche/der-vermessene-mensch-104.html
gedeutet von Godula Kosack
Im Fokus stehen die rassistischen Einstellungen und pseudowissenschaftlichen Methoden von deutschen Ethnologen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia (damals „Deutsch-Südwest-Afrika“). Gezeigt wird ein Universitätslehrsaal, in dem Studierenden erklärt wird, wie sie die Schädel von Angehörigen der Herero und Nama zu vermessen haben. Die angenommene kleinere Schädelgröße soll als Beleg für die Unterlegenheit der „afrikanische Rasse“ gelten und damit zur Rechtfertigung jeglicher Gräueltaten an den Kolonialisierten dienen. Ein junger Ethnologe, Alexander Hoffmann, zweifelt die wissenschaftliche Aussagekraft der Schädelvermessungen an und ist nicht überzeugt von der geistigen Unterlegenheit der Afrikaner.
Als eine hochrangige Herero-Delegation in Berlin eintrifft, die mit dem Kaiser Friedensverhandlungen führen will, werden auch die TeilnehmerInnen zum „Studienobjekt“ degradiert und vermessen. Dolmetscherin der Gruppe ist eine Herero-Frau, die den jungen Ethnologen beeindruckt und seine antirassistische Einstellung bestätigt. Die Delegation bekommt keine Audienz beim Kaiser und ein Frieden zwischen den Herero und Nama einerseits und dem Kaiserreich auf der anderen Seite ist damit verhindert. Es kommt zum Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft, der mit äußerster Brutalität beantwortet wird.
Hoffmann meldet sich freiwillig für eine Forschungsreise in die Kolonie. Beschützt von der Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika sammelt er von Geflohenen zurückgelassene Artefakte und Kunstgegenstände der Herero und Nama. Er wird Zeuge des Genozids an den Herero, die ohne Ausnahme und ohne irgendwelche Möglichkeiten des Überlebens in die Wüste geschickt werden. Nur einzelne werden von den Deutschen zurückbehalten, um die Schädel von Ermordeten auszukochen und vom Fleisch zu reinigen. Hoffmanns Skrupel schwinden mehr und mehr mit Zunahme der Gräueltaten gegen die Entrechteten, deren Zeuge er wird. Er sucht nach der von ihm verehrten Dolmetscherin, und findet sie schlussendlich auch; allerdings in einem Konzentrationslager und in einem durch die erlittenen Grausamkeiten so entmenschlichten Zustand, so dass er vorgibt, sie nicht zu kennen.
Der Film endet mit einer Szene im Universitätshörsaal, wie er den Studierenden das Vermessen von Schädeln erklärt, die in großen Mengen von Afrika nach Deutschland geschafft worden sind – nicht wenige durch sein eigenes Zutun. Von Studierenden auf seine Publikation als junger Wissenschaftler angesprochen, in der er den evolutionären Rassismus in Frage stellt, tut er dies als eine jugendliche Verirrung ab.
Was den Film für mich so ergreifend macht, ist nicht in erster Linie die Brutalität der deutschen Kolonialmacht, die in einem entsetzlichen Genozid kulminiert – davon hatte ich an anderer Stelle gelesen und gehört –, sondern die Wandlung, die in einem ganz normal menschlich denkenden Individuum vor sich geht: Protagonist ist ein junger Ethnologe, der an wissenschaftlicher Erkenntnis interessiert ist und die Wirklichkeit verstehen will. Am Ende verleugnet er nicht nur das Menschsein der Herero, sondern auch sich selbst. Die Brutalitäten, die er nicht nur bezeugte, sondern in die er an der Seite der Soldaten immer mehr verwickelt wurde, waren für ihn nur auszuhalten, indem er sich völlig wandelte, sich anpasste und das Geschehen für notwendig, also richtig erklärte.
Der Titel, der „vermessene Mensch“, ist doppelsinnig. Menschen werden entmenschlicht, indem sie vermessen werden, und andere sind so vermessen, das für wissenschaftliche Untersuchungsmethoden auszugeben und moralisch zu rechtfertigen. Deutlich wird auch die Verwerflichkeit einer Wissenschaft, die sich anbiedert, einem völlig abstrusen Menschenbild der Herrschenden die Rechtfertigung zu liefern. Bei mir bleibt die Frage, ob und wo die heutige Wissenschaft sich gleichermaßen für politische Zwecke einsetzen lässt; frei nach Marx: die herrschende Wissenschaft ist immer die Wissenschaft der Herrschenden.