Im Oktober 2024 jährt sich zum 25. Mal der Todestag des ersten Präsidenten der Vereinigten Republik Tansania, Julius Kambarage Nyerere.
Noch heute sprechen die Tansanier ehrerbietend und achtungsvoll von ihm als dem „Mwalimu“, dem Lehrer; nicht etwa, weil er Lehrer von Beruf war, sondern weil er das Land in die Unabhängigkeit geführt und die 120 Völker Tansanias gelehrt hat, friedlich miteinander zu leben, „von den gelegentlichen Viehdiebstählen über die Stammesgrenzen hinweg mal abgesehen“, wie er einmal mit augenzwinkerndem Humor bemerkte. Mit diesem Satz sind zwei seiner größten Verdienste und eine seiner charakteristischen Eigenschaften genannt.
Julius Nyerere steht in einer Reihe mit den herausragenden politischen Führern Afrikas, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die früheren Kolonien in die Unabhängigkeit geführt haben. Dazu zählen in erster Linie in Westafrika Kwame Nkrumah, unter dessen Führung Ghana 1957 als erstes Land des subsaharischen Afrika die Selbständigkeit errungen hat, sowie Leopold Senghor und Patrice Lumumba. Im Osten des Kontinents waren es Jomo Kenyatta und Kenneth Kaunda, und eben Julius Nyerere, die sich für immer in die Geschichtsbücher des Unabhängigkeitskampfes eingetragen haben. Diese Namen werden nur überstrahlt von dem Nimbus der Jahrhundertpersönlichkeit Nelson Mandela.
Seit 1953 stand Julius Nyerere ununterbrochen an der Spitze der politischen Bewegung im Lande, zunächst in den Gremien der Vorläufer der späteren Regierungspartei CCM und seit der Unabhängigkeit dann zusätzlich auch in staatlicher Funktion als Ministerpräsident und Präsident. Die Entwicklung des Landes ist untrennbar mit seinem Namen verbunden.
Für diese Entwicklung steht stellvertretend die 1967 mit der „Arusha Deklaration“ verkündete „ujamaa“-Politik, mit der er das Schicksal des Landes maßgeblich beeinflusste. Die von ihm entwickelte Gesellschaftsvision, wurde von ihm hoffnungsvoll, von der westlichen Seite verächtlich und von der östlichen Seite euphorisch – von allen aber ungenau – als Sozialismus bezeichnet. Es war im Nachhinein das illusionäre Vorhaben, auf den Wertvorstellungen der traditionellen afrikanischen Dorfgemeinschaft, vereinfacht gesagt auf Freiwilligkeit und Gemeinsamkeit, den Aufbau einer gerechten, hochproduktiven und zukunftsfähigen Gesellschaft voranbringen zu können. Bei allem guten Wollen muss ein beispielsweise kostenloses Bildungs- und Gesundheitswesen letzten Endes aber doch irgendwie bezahlt werden, auch wenn die Erfolge gerade im Bildungswesen unbestreitbar sind. Der Anteil der erwachsenen Analphabeten wurde unter 20 Prozent gesenkt und die Schulpflicht der Kinder nahezu vollständig gewährleistet. Aber wie auch in anderen Teilen der Welt, so ist auch in Afrika diese Vorstellung von einer besseren Welt zerstoben.
Unbestreitbar ist auch, dass dank Nyereres Innenpolitik nicht nur die etwa 120 ethnischen Gruppen des Landes mit der oben erwähnten humorigen Einschränkung bisher friedlich miteinander leben. Es entsprach seiner zutiefst humanistischen Gesinnung als gläubiger Katholik, dass alle Bewohner des Landes – seien sie Afrikaner, Asiaten, Araber oder Europäer, Moslems, Hindus, Animisten oder Christen – gleichberechtigte Bürger sein können. Symbolträchtig trug der Katholik Nyerere bei offiziellen Anlässen oft eine Kofia, die reichbestickte muslimische Kopfbedeckung. Tansania ist frei von Stammesfehden, religiösen und rassistischen Auseinandersetzungen, Bürgerkriegen, Staatsstreichen und Militärputschen, wie sie in vielen anderen afrikanischen Ländern bis heute an der Tagesordnung sind. Auch mit seinen acht Nachbarländern lebt Tansania friedlich zusammen. Lediglich mit Uganda gab es in der Zeit der Herrschaft des „Schlächters von Afrika“, Idi Amin, seit 1971 Spannungen und auch militärische Auseinandersetzungen, bis sich Tansania schließlich 1979 aktiv am Sturz Amins beteiligte.
Die Außenpolitik Nyereres war grundsätzlich auf die vollständige Befreiung und ein friedliches Miteinander der Völker des Kontinents, auf die afrikanische Einheit gerichtet. Das gilt auch für sein Wirken in den damaligen Organisationen für Afrikanische Einheit, der Blockfreien und der „Frontstaaten“, die unmittelbar dem rassistischen Apartheidregime Südafrikas gegenüberstanden. Auch deshalb ist er Träger zahlreicher internationaler Friedenspreise und Kandidat für den Friedens-Nobelpreis gewesen. Sein Vorbild war Mahatma Gandhi und dessen gewaltloser politischer Kampf. Ungezählt sind die Veröffentlichungen aller Art, die das Leben und die Verdienste Julius Nyereres würdigen. Beispielhaft sei ein 2020 erschienenes umfangreiches Gemeinschaftswerk dreier Autoren erwähnt, das in drei Bänden drei unterschiedliche Etappen seines Lebens analysiert.[1] Eine solche Würdigung seiner Person hätte er zu Lebzeiten in seiner Bescheidenheit vermutlich zu verhindern versucht.
In vielen Publikationen über Julius Nyerere werden seine Verdienste auf einem Gebiet abseits der Politik vergessen, dem Gebiet der Sprache. Schon 1954 wurde auf seine Veranlassung in das Gründungsdokument der späteren Regierungspartei der Passus aufgenommen, Swahili möge das einigende Band der 120 Ethnien mit ihren unterschiedlichen Sprachen und ein Garant ihrer Einheit sein. Es ist auch sein Verdienst, dass Swahili heute die Nationalsprache Tansanias und über die Landesgrenzen hinaus für mehreren Ländern Ostafrikas zur verbindenden Verkehrssprache geworden ist. Darüber hinaus hat er die Swahili-Literatur und die Sprache bereichert, indem er sich als Übersetzer betätigte und unter anderem William Shakespeares „Julius Caesar“ und „Der Kaufmann von Venedig“ ins Swahili übersetzte.
Anfang der 1980er Jahre begann sich bei ihm die Erkenntnis herauszubilden, dass die reale Welt eine andere ist als die in idealistischen Vorstellungen ausgemalte. So blieb beispielsweise die Produktivität der genossenschaftlichen ujamaa-Dörfer hinter den Erwartungen zurück, viele Partei- und Staatsfunktionäre missachteten die in der Arusha-Deklaration an sie gestellten hohen moralischen Anforderungen. Mit der ihm eigenen Prinzipienfestigkeit war er nicht bereit, seine Ideale aufzugeben und zukünftig eine Politik zu vertreten, die nicht seinen Vorstellungen entsprach. In einer Rede auf einer zentralen Parteiveranstaltung sagte er 1985: „gestehen wir uns ein, dass ich versagt habe“ und übergab das Amt des Präsidenten an Ali Hassan Mwinyi, einem Anhänger der freien Marktwirtschaft. Der Gerechtigkeit halber und zu Nyereres Ehrenrettung muss man aber hinzufügen, dass auch dieser Weg das Land nicht in eine lichte Zukunft geführt hat. Fünf Jahre später verzichtete er auch auf den Parteivorsitz. Er zog sich bis auf gelegentliche Vermittlerrollen in internationalen Konflikten weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurück. Julius Nyerere war einer von sehr wenigen Präsidenten in Afrika, der freiwillig von seinem Amt zurücktrat.
Seinen Lebensabend verbrachte er in seinem Geburtsort Butiama in der Nähe des Victoria-Sees, wo er auch begraben wurde. In dem damaligen kleinen Dorf wuchs er in ärmlichen Verhältnissen als eines von 26 Kindern auf, die sein Vater Nyerere Burito, ein Unterhäuptling der Wazanaki-Ethnie, mit 22 Ehefrauen hatte. Seine Mutter nannte ihn Kambarage, den „Regenbringer“. Britischen Missionaren fiel die außergewöhnliche Intelligenz des Jungen auf und so sorgten sie dafür, dass er ab seinem neunten Lebensjahr, zunächst barfuß und nur mit einem Lendenschurz bekleidet, eine Schule besuchen konnte. Mit 12 begann er Swahili zu lernen, mit 15 Englisch, das Vierjahrespensum der Oberschule schaffte er in drei Jahren, mit 24 war er Absolvent der Makerere-Universität (Uganda) mit dem Berufsabschluss als Lehrer, auf Swahili „Mwalimu“, die Ehrenbezeichnung, die ihm später zuteilwurde und die ihn bis heute nie mehr verlassen sollte; mit 27 erhielt er ein Stipendium und war mit 30 der erste Afrikaner aus einer britischen Kolonie, der an einer Universität des „Mutterlandes“ in Edinburgh promovierte. Seine Herkunft und seinen Lebensweg haben ihn geprägt. Bescheidenheit und Genügsamkeit zeichneten ihn auch als Staatspräsidenten aus, Prunk, Glanz und Eitelkeit waren ihm fremd. Die mitunter operettenhaften Phantasieuniformen einiger seiner Amtskollegen betrachtete er mit distanzierten spöttischen Bemerkungen. Mehrfach hat er als Präsident verfügt, weder mit „Dr. Nyerere“ noch als „Your Exzellency“ angesprochen zu werden. Er ist einer der wenigen afrikanischen Staatsmänner, die sich im Amt nicht bereichert haben und gegen die nie Korruptionsvorwürfe erhoben wurden.
Da die Kolonialbehörden 1922 noch kein Geburtsregister eingeführt hatten, bestimmte er später sein Geburtsdatum auf der Grundlage einer Aussage seiner Mutter und diesbezüglichen Recherchen in den Archiven, wonach er an einem Tag geboren sei, an dem auf dem Victoria-See ein Schiff untergegangen sei.[2] 1942 konvertierte er zum katholischen Glauben und nannte sich von nun an Julius Nyerere. Dem katholischen Glauben blieb er bis zu seinem Tod fest verbunden, er lebte den Katechismus und damit auch monogam. Als er seinen Bruder Wanzagi, der traditionell polygam lebte, fragte, wozu er elf Frauen benötige und dieser daraufhin antwortete, „für die Feldarbeit“, empfahl er ihm: „kauf‘ dir einen Traktor!“
Was bleibt? Unauslöschlich bleibt der verdienstvolle Afrikaner, der sein Volk in die Unabhängigkeit geführt hat, der sich zeitlebens für die Befreiung und Einheit Afrikas einsetzte; es bleibt der Humanist, der gläubige Katholik. Es bleibt aber auch der selbstkritische Politiker, der eingesehen hat, dass seine Wirtschaftspolitik gescheitert ist – und es bleibt die Frage, was wird aus seinem noch existierenden Werk, der Union zwischen dem Festland und den Inseln Sansibar und Pemba – die Fliehkräfte in beiden Landesteilen sind groß.
Hans-Peter Puffky
Hans-Peter Puffky – Jahrgang 1942, ist Diplom-Afrikanist. Er war als DDR-Diplomat im östlichen und südlichen Afrika, u.a. 7 Jahre in Tansania, zuletzt Botschaftsrat und Stellvertreter des Botschafters in Simbabwe und Äthiopien.
[1] Issa G. Shivji, Saida Yahya-Othman, Ng’wanza Kamata Development as Rebellion: A Biography of Julius Nyerere, Dar- es- Salaam, Mkuki na Nyota, 2020, ISBN 978-9-987084-11-1
[2] Die britische Enzyklopädie „Britannica“ datiert sein Geburtsdatum auf „März“ 1922, tansanische Quellen nutzen das von Nyerere festgelegte Datum