Boko Haram in Kamerun und die Reaktion eines jungen Intellektuellen

Seit Jahren realisiert DAFRIG Leipzig in Nordkamerun in Zusammenarbeit mit lokalen Partnerinnen und Partnern kleinere Entwicklungsprojekte. Im Mittelpunkt der gegenwärtigen Aktivitäten steht ein Förderprogramm für die schulische und die weitere Ausbildung von Mädchen und Frauen, das auch in Deutschland von Schulen, Organisationen und privaten Spendern unterstützt wird und auch für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit unseres Vereins eine wichtige Referenz darstellt. Das Projektgebiet liegt im Siedlungsgebiet der Mafa, in den Mandara-Bergen, gehört zur Region „Extremer Norden“ und grenzt unmittelbar an Nordnigeria.

Seit über einem Jahr dehnt die in Nordnigeria operierende islamistische Bewegung Boko Haram ihre terroristischen Aktivitäten in größeren Aktionsräumen Westafrikas, darunter vor allem auch in Kamerun, aus. Bewaffnete Überfälle mit mehreren Toten, Entführungen und Diebstahl haben sich gehäuft, was zu entsprechenden Gegenmaßnahmen der kamerunischen Armee und anderer Sicherheitskräfte geführt hat. Die Situation ist gefährlich und hat zu einem Zustand der Angst und Verunsicherung unter der Bevölkerung geführt. Europäer haben die Einflusszone der Terroristen weitgehend verlassen. So musste auch der in diesem Jahr im Projektgebiet vorgesehene Arbeitsbesuch einer DAFRIG-Gruppe abgesetzt werden.

Vor wenigen Tagen erreichte uns die Wortmeldung eines unserer engsten Projektpartner in Kamerun, die die Situation schildert, die Bedrückung der Menschen vor Ort zum Ausdruck bringt und auf Ursachen und Zusammenhänge verweist. Sie zeigt uns, dass es in dieser kritischen Situation nicht nur damit getan ist, militärische Maßnahmen zu ergreifen, sondern dass es erforderlich ist, Entwicklungshebel einzusetzen, die dem Terrorismus nachhaltig den Boden entziehen. Soweit es die DAFRIG betrifft, werden wir natürlich unsere Projekte fortführen und nach den Bedürfnissen unserer Partner und den uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten erweitern.

Der Autor dieser Wortmeldung ist Deutschlehrer und DAFRIG-Mitglied. Sein Text hat uns sehr berührt. Deshalb haben wir uns auch entschlossen, ihn an die Öffentlichkeit zu geben. Diese Idee fand die ausdrückliche Billigung unseres kamerunischen Freundes.

Deutsch-Afrikanische Gesellschaft (DAFRIG Leipzig e.V.)

 

Reaktion eines jungen Intellektuellen aus Nordkamerun auf „Boko Haram“

Als aus Nordkamerun stammend, der in dieser Region tätig ist und der die durch Boko Haram verursachten religiösen, sozialen und politischen Konflikte in Fleisch und Blut erlebt, melde ich mich zu Wort, um das große Schweigen der Nordkameruner zu brechen: Seit ein paar Monaten sind Frauen, Jugendliche, Männer, Christen, Moslems und Laien überfallen und bedroht worden. Wie lange wird das noch dauern?

Eine allgemeine Angst bremst die täglichen Aktivitäten

Wenn man fernsieht oder Radio hört, erfährt man, dass ein Gebirge menschlichen Leids sich geometrisch erhebt: Leid um die Toten, Leid durch Flucht und Vertreibung, durch Vergewaltigung und Plünderung, Leid durch Hunger und Not, Leid durch Verlust und Leid durch Angst vor Verhaftung und Tod. Nichtregierungsorganisationen, Kulturforen, Individuen usw. erfahren reaktionslos die Verbrennung von Schulen, Städten, Marktplätzen und den Verlust von Toleranz. Ich selbst erlebe die Schwierigkeit der Leute, die ihren täglichen Geschäften nachgehen müssen. Schülerinnen und Schüler haben Angst in die Schule zu gehen. Der Glaube an Gott in Kultstätten wird gebremst. Die Gläubigen fürchten die Bombe in ihren jeweiligen Kultorten. Bäuerinnen und Bauern werden unterwegs entführt, angegriffen, vergewaltigt manchmal ausgeraubt, ja grausam getötet.

Wer ist daran schuld?

Wir klagen die Boko Haram Protagonisten wegen der Gewalt an. Diese Situation ist schmerzhaft, jammer- und leidvoll. Das ist ein Verbrechen! Als Kameruner aus dem Norden, der die sozialen Verhältnisse selber erlebt, fokussiere ich mich nicht nur auf die heutige Lage, wenn es darum geht, den Kontext der Entstehung der Gewalt zu verstehen. Ich fordere meine Regierung, unsere Eliten und die ganze Welt auf, auch andere Gründe als nur religiöse in der aktuellen Gewalt zu sehen.
Zunächst ist das Scheitern der Modernisierungsprozesse im Norden hervorzuheben. Modernisierung verweist hier auf den historischen Entwicklungsprozess, der in einem historisch langen, nicht exakt bestimmbaren Zeitraum in Europa anfing und Afrika im Zuge der Kolonisierung allmählich erschloss.

Sowohl in Nigeria als auch in Kamerun haben die Kolonisatoren den Norden im Gegensatz zum Süden vernachlässigt oder ganz vergessen. Es gab hier wenig soziale Infrastrukturen wie Schulen, Krankenhäuser, Straßen und folglich nur eine kleine gebildete Elite, die energisch und mutig die Interessen des Nordens hätte vertreten können. Das Scheitern der Modernisierung im Norden ebnete die Wege der Finsternis, ja der Barbarei. Eine völlige Finsternis brach in fast allen afrikanischen Ländern von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart über den Norden herein.

Die jeweiligen Unabhängigkeitsregierungen veränderten dann die Lage nicht. Sie verfolgten die Richtung der Kolonialherren weiter. Außerdem betrachteten sie den Norden und dessen Bewohner als Synonym für Hinterland, Misere, Armut, Hässlichkeit und als Zone des Islam . Die Vorurteile der Kolonialzeit wurden nicht überwunden. Sowohl in der Schule als auch auf dem Gebiet der Politik gab es keinen öffentlichen Diskurs, um die Klischees gegenüber den aus dem Norden Stammenden zu ersticken.

In Kamerun zum Beispiel gab es kaum Recherchen über die kulturellen Unterschiede, die Vielfältigkeit und Besonderheiten der Ethnien. Auf das Volk wurde zeitweilig brutal und repressiv eingewirkt, weil man dringend und schnell eine moderne Nation bilden wollte. Die Mafa – ein im nordkamerunischen Hochland lebendes Volk – erlebten es am eigenen Leib. Sie legten großen Wert auf ihre kulturelle Authentizität. Sie gingen deshalb nackt, verweigerten den Islam und lebten auf den Bergen unter unzumutbaren Bedingungen. Die damalige Regierung behandelte sie brutal und repressiv, damit sie den modernen Lebensstil rasch annahmen. Man sagte: c’est la honte; ils souillent la Republique. „Das ist schändlich, sie besudeln das Bild der Republik“. Weil es im Norden fast keine Investitionen und keine Errichtung geeigneter Infrastrukturen gab, übten die Regierung und christliche Missionare eine Halbzivilisierung aus. Diese Situation saß wie ein Pfahl im Fleisch der Gesellschaft der Einheimischen.

Wie erklärt sich die zunehmende Zuwendung der Jugendlichen zur Boko Haram-Sekte?

Die Zuwendung der Jugendlichen zu der islamistischen Sekte ist Ausdruck der Hoffnungslosigkeit. Die Obrigkeit zeigt sich als feige. Die politischen Vertreter sind korrupt und inaktiv, sie versprechen viel und realisieren nichts. Die Jugendlichen fühlten sich wie Waisenkinder. Nur wenige gehen zur Schule. Ein paar Ausgebildete wurden als Lehrer oder Krankenpfleger eingestellt, aber diese müssen ein, zwei, manchmal bis zu vier Jahre warten, ehe sie das erste Gehalt bekommen. Die ewige Antwort der Regierung heißt abwarten. Abwarten, ja! Für einen patriotischen Jungen vielleicht akzeptabel, aber nicht alle definieren sich als patriotisch. Daneben aber gibt es nun das Angebot der Boko Haram: Integriere dich in die islamische Sekte und werde Millionär. Was sagt in einem solchen Fall das Gesetz von Angebot und Nachfrage? Abwarten? Doch wohl nicht! Diese Tatsache müssen unsere jeweiligen afrikanischen Regierungen vollständig beachten, wenn sie das Phänomen von Boko Haram wirklich ausrotten wollen.

Probleme werden gelöst, wenn sie sich in ihrer extremen Form äußern. Und der gegenwärtig kriechende Konflikt ist vielleicht das afrikanische Gegenstück zur 68er Revolte in Europa. Aber wenn ein Konflikt immer weiter fortdauert, alle infrastrukturellen Errungenschaften und selbst das Leben rücksichtlos vernichtet und alle Dialoglösungen absichtlich verweigert werden, dann ist er nicht mehr nur ein Konflikt.

Eine selbstbewusste junge Generation im Norden ruft um Hilfe, um die Situation zu stabilisieren!

Wir wollten mit unserer eigenen Kraft unsere jämmerliche Situation verändern. Wir gingen den Weg unserer kulturellen Renaissance. Wir versuchen mit den einfachsten Mitteln Bildung, Ausbildung und Forschung bei uns zu fördern. Als selbstbewusste, kreative und unternehmerische Jugendliche wollten wir das Schicksal unserer Gesellschaft in die Hand nehmen. Deshalb haben wir auch im Rahmen der internationalen Partnerschaft schon Kontakte mit westlichen Partnern (DAFRIG , TERRE DES FEMMES ) aufgenommen, die unsere Politik gut verstehen. Mit ihnen pflegen wir Basisprojekte, die für uns und unsere Bevölkerung sehr hilfreich sind. Wir zollen ihnen herzlichen Dank. Diese wollten uns ihre Expertise und Unterstützung anbieten, damit wir unsere große und tiefe Zurückgebliebenheit entscheidend aufholen. Seit einigen Monaten konnten unsere Partner und treuen Freunde uns wegen der Unsicherheit nicht mehr besuchen. Jetzt wird alles gebremst, ja gelähmt. Das Problem betrifft nicht nur Kamerun und Nigeria, sondern die ganze Welt. Die Rücksichtslosigkeit dieser Sekte wird sich nicht nur auf diese Länder beschränken. Wir rufen deshalb zum internationalen freimütigen Dialog auf.

Ganava Baldina

Der Name des Autors ist verändert.