Erlesenes aus und über Afrika – Großfamilien-Bande, Kurzgeschichten aus der DR Kongo

ein Buch von Faida Tshimwanga und Joachim Oelßner

In ihren Kurzgeschichten aus der Demokratischen Republik Kongo beschreibt das Autorenpaar unterhaltsam und gekonnt afrikanische Sozialbeziehungen und vielfältige Realitäten des heutigen Afrikas, in deren Mittelpunkt die sogenannte Großfamilie mit ihrem weitverzweigten Beziehungsgeflecht steht.

Wie schon aus der Doppeldeutigkeit des Titels hervorgeht, stehen großfamiliäre Bande einerseits für Zusammenhalt, Solidarität und Fürsorge sowie andererseits für Hierarchisierung der Stellung der Individuen in Bezug auf Ältere und Ahnen, zugewiesene Geschlechterrollen und unterschiedlich Ansprüche bzw. Egoismen der einzelnen Banden-Mitglieder sowohl nach innen als auch nach außen.

Die 19 Anekdoten vermitteln ein komplexes Abbild der Doppelmoral in einer afrikanischen Großfamilie, die sich über Jahrhunderte zwar als stabile Basis eines sozialen Zusammenhalts bewährt hat, aber heute zugleich zunehmend erodiert, bedingt durch den Einzug moderner westlicher Einflüsse auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, besonders in den Großstädten. Die Autoren öffnen dem Leser anhand klug ausgewählter Persönlichkeiten und Charaktere, ihren Beziehungen und Dialogen, den Blick dafür, wo sich bereits die mit der traditionellen Großfamilie verbundenen Werte teilweise aufzulösen beginnen und deutliche Risse zeigen, wo Vorbehalte und Gleichgültigkeiten die Oberhand gewinnen, wo sich die persönlichen Kontakte zu den (geographisch wie hierarchisch) entfernteren Ver­wandten teilweise abschwächen, wo man die „negativen“, weil kostspieligen Pflichten gegenüber Alten, Kranken oder sozial Schwachen nicht mehr übernimmt oder wo Frauen durch Berufstätigkeit und Bildung nicht mehr geneigt sind, sich in die traditionellen Geschlechterrollen zu fügen.

Um solche ergreifenden und spannenden Geschichten erzählen zu können muss man schon eine ganze Weile in einem solchen Land gelebt haben und mit dessen sozialen Umgangsformen gut vertraut sein. Zusätzlich gehören neben vorzüglichen Sprach- und Landeskenntnissen auch eine scharfe Beobachtungsgabe und eigenes Erleben dazu. Das alles kann man dem Autorenpaar ohne Wenn und Aber bescheinigen. Wohltuend ist auch ihre Sichtweise, dass kein direkter Kontrast der afrikanischen „Großfamilie“ zur westlichen „Kleinfamilie“ konstruiert, eben keiner vereinfachten Darstellung Vorschub geleistet wird, sondern zu erkennen bleibt, dass es unterschiedliche Familien-, Verwandtschafts- und Haushaltsformen, keine dominierende oder überall gleiche Sozialform des Zusammenlebens in Afrika gibt. Insofern wird deutlich, dass jede Familienform in ihrer sozialen Vielfalt einzigartig ist, für die hier thematisierte Großfamilie trifft das in ganz besonderer Weise zu.

Neben dem, was mehr oder weniger auf ganz Afrika zutrifft, wird zugleich ein sehr spezieller Blick auf die DR Kongo in Zentralafrika geboten. Er legt Zeugnis ab von der großen Vielfalt der Großfamilie in einem der mehr als fünfzig Länder des Kontinents, die sich immer den unterschiedlichen Einflüssen anpassen musste. Dazu gehörten vor allem der Einfluss der verschiedenen Religionen (animistische, islamische, christliche in verschiedensten Ausprägungen und Spielarten), die Rolle der einzelnen Kolonialmächte oder die Migrationsströme, vor allem ausgelöst durch Konflikte im Innern einzelner Länder. Auch die unterschiedlichen Politik-Systeme der letzten Jahrzehnte nach der Erlangung der Unabhängigkeit spielen eine nicht unmaßgebliche Rolle.

In manchen afrikanischen Staaten, insbesondere Westafrikas fand nach der Unabhängigkeit einerseits auch die bürgerliche Familie Eingang in staatliche Rechtsnormen, ursprünglich hineingetragen durch Missionare oder Kolonialbeamte. Andererseits leben Menschen in bäuerlichen Haushalten der Sahelzone oft in mehreren Generationen, in denen ein Mann als Familienvorstand agiert, mit zwei oder mehr Ehefrauen und deren Kinder zusammen. In anderen Ländern wiederum, die stärker durch Wanderarbeit geprägt sind wie im südlichen Afrika, existieren auf dem Land viele kleinere Haushalte, in denen oft Frauen das Sagen haben. In größeren Städten führen die Ehefrauen eines Mannes mit ihren Kindern oft eigene Haushalte, während der Mann zwischen den einzelnen Domizilen, die mitunter weit voneinander entfernt liegen, hin- und herpendelt – wie häufig in der DR Kongo. Zunehmend gibt es in Großfamilienangehörige mit Migrationshintergrund, wo Kinder oder Elternteile, die im Ausland leben, ihre Angehörigen im Herkunftsland materiell und finanziell unterstützen.

Zugleich wird ersichtlich, dass sich solche Strukturen sehr dynamisch entwickeln, einerseits aufgrund ihrer zahlenmäßigen Größe, andererseits auch aufgrund der Zuwanderung meist von Kindern und Jugendlichen vom Land in die Stadt, weil sie sich dort im Haushalt ihrer Verwandten nützlich machen können, Schulbildung anstreben oder sich eine Ausbildung erhoffen. Landflucht bzw. der Zuzug in Städte sind gerade in der DR Kongo sehr ausgeprägt – was sich auch in einigen Geschichten widerspiegelt. Manchmal werden junge Frauen auch an Ausländer zwangsverheiratet, weil sich die Großfamilie verspricht, in großem Stil zu profitieren.

Die Kurzgeschichten offenbaren auch einen weiteren Unterschied zu vielen europäischen Familien, der darin besteht, dass viele Menschen in Afrika ein ausge­prägtes Bewusstsein für Verwandtschaftsverhältnisse haben und aufgrund der verschiedenen Stellungen der Mitglieder der Großfamilie sehr genau wissen, mit welchen von ihnen sie in welcher verwandtschaftlichen Beziehung stehen.

Die DR Kongo ist bezogen auf seine Fläche der zweitgrößte Staat Afrikas mit sehr unterschiedlichen Regionen, teils auch durch regionale Konflikte in Vergangenheit und Gegenwart gezeichnet. Sie ist zugleich eines der reichsten Länder Afrikas mit vielen Bodenschätzten, tropischen Hölzern und immensen Süßwasserreserven. Dennoch sind in diesem Land die Unterschiede zwischen arm und reich besonders krass, ebenso zwischen Stadt (insbesondere Kinshasa und dem weit entfernten Goma an der Ostgrenze zu Rwanda) und den abgelegenen ländlichen Provinzen – wie auch aus einigen Geschichten hervorgeht.

Kinshasa ist mit rund 16 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt Afrikas, wobei sich einzelne Stadtbezirke hinsichtlich sozialer Struktur, Einwohnerdichte und klimatischer Bedingungen stark unterscheiden. Da viele Kurzgeschichten Bezug zu Kinshasa haben, erhält der Leser ein Bild von der bunten Vielfalt dieser riesigen Stadt – wobei ein Lageplan o.ä. den Überblick, auch über die in den Worterläuterungen am Schluss des Buches genannten sieben Stadtteile, von denen nur Matonge mit dem Hinweis als Vergnügungsviertel versehen ist, noch verbessert hätten.

Im Mittelpunkt der meisten Kurzgeschichten steht die Rolle der Frau(en) im „System“ Großfamilie, einerseits in ihrer Funktion den Zusammenhalt zu sichern, andererseits ihre Entrechtung. Dem Leser wird am Beispiel real existierender Rollenverhältnisse vor Augen geführt, was traditionelle, standesamtliche oder kirchliche Trauungen für die jeweils Beteiligten und ihre Stellung im „System“ Großfamilie bedeuten. Ob Brautgeld, Kredit oder Testament: das „System“ Großfamilie funktioniert immer noch nach den gleichen Regeln, aus denen man nur schwer ausbrechen kann (etwa durch eine Flucht nach Westeuropa), um sich einer Entrechtung durch Betrug, Ignoranz oder Ausschluss von Rechtsansprüchen zu entziehen. Polygamie ist nicht nur in der DR Kongo, sondern in weiten Teilen Afrikas allgemein akzeptiert und ein Ausbrechen aus dieser familiären Zwangslage schon aus finanziellen Gründen kaum möglich. Andererseits wurde in bestimmten afrikanischen Staaten, darunter der DR Kongo in der zurückliegenden Zeit auch per Gesetz ein staatliches Familienrecht eingeführt, was aber in der Realität oft umgangen wird, worauf die Autoren u.a. mit der Geschichte „Das Testament“ (93 ff.) anspielen. Der Motorradtaxifahrer Kasadi erhofft sich nach dem Tod seines reichen Vaters auch von dessen Testament bedacht zu werden – ein Irrglaube, denn der erstgeborene Sohn der Erstfrau, dessen Familie im Luxus lebt, verfügt über den Nachlass ausschließlich in seinem Sinne. Selbst die Einschaltung eines Notars kann daran nichts ändern. Am Ende muss der junge Mann enttäuscht konstatieren: „Das Geld hat die Macht, nicht das Recht!“ (110)

Ebenso treiben in viele Geschichten die die Agenten traditionellen Glaubens, die als Hexer und Zauberer („Ndoki“) mit den Geistern der Vorfahren kommunizieren und Rat einholen können, ihr Unwesen als imaginäre Gestalten oder als Wahrsager – „Nganga-Nkisi“. Aberglaube ist weit verbreitet und Fetische müssen herhalten, um Familienangehörige zu manipulieren oder wahre Beweggründe zu verschleiern bzw. Wahrheiten zu kaschieren. (s. „Fetisch und ein Sprichwort“; 111 ff.)

Treffend gelungen ist auch die Kurzgeschichte „Schicksalsschläge“ (28 ff.) Als auch die dritte Ehefrau Lydia des jungen Mannes Theo samt Baby bei der Geburt verstirbt, hatte ein Arzt bereits vorher große Myome an der Gebärmutter wie bei den bereits zuvor verstorbenen Ehefrauen diagnostiziert. Dennoch kommt schließlich jede medizinische Hilfe zu spät. Auch sie hatte einen Besuch beim Frauenarzt zu lange hinausgeschoben und als ein dringender Eingriff empfohlen wurde, schob sie diesen vor sich her. Freundinnen rieten ihr abzuwarten und lieber einen Nganga-Nkisi zu konsultieren und orakeln über das Für und Wider eines solchen Vorgehens. Schließlich wenden sie sich an einen, um den Schuldigen zu finden, den es ja geben müsse. Der Nganga-Nkisi erklärte, „dass offenkundig ein böser Geist oder ein Tati-Wata aus der Unterwasserwelt sein Unwesen treibe und einen Ndoki geschaffen habe. Offenbar sei er auf eine bestimmte Art und Weise mit allen drei Frauen verbunden und habe irgendeine Art spirituelle Beziehung zu ihnen. Dieser müsse zur Rechenschaft gezogen werden, um weiteres Unglück zu vermeiden. Für die Frauen war der Übeltäter mit diesen Worten zur Genüge charakterisiert.“ (S. 37)

Ein besonderes Übel bildet auch der Umstand, dass die Frau nach wie vor eine Ware ist und ungeachtet einer bestehenden Rechtsprechung ihre Nichtgleichberechtigung fortbesteht. Häufig ist sie zur Prostitution gezwungen, um zu überleben, direkt oder indirekt. „Sie verliert praktisch das Recht auf ihr Leben.“ (60)

Auch das Versickern von „Projektgeld“ (162 ff.) in undurchsichtigen Kanälen der Großfamilie kommt zur Sprache, wobei völlig zutreffend der deutsche Projektleiter bei seinen Nachforschungen nach dem Verbleib des Geldes durch den Hinweis der Verschiebung der Fußball-WM-Vergabe 2006 darauf aufmerksam macht, dass Korruption und das Versagen der Rechtsprechung in noch viel größeren Dimensionen auch um Deutschland keinen Bogen machen. Am Ende wird weder das Geld noch ein Schuldiger gefunden. (S. 169)

Aber im Buch wird in einigen Kurzgeschichten auch ein hoffnungsvolles Bild gezeichnet, insbesondere junger Afrikanerinnen, die nicht mehr willenlos alles hinzunehmen bereit sind. Bildung, selbst wenn sie über elementare Wissensaneignung nicht hinausgeht, oder die Solidarisierung in Kleinstkredit-, Handels- oder Erzeugergemeinschaften (in Westafrika als tontines bezeichnet) stärken das Selbstbewusstsein und die Persönlichkeit. Besonders gelungen ist in dieser Hinsicht die Kurzgeschichte „Der Beichtstuhl“ (140 ff.), wo sich die junge Frau Maskini gegen die Polygamie und das Brautgeld wendet.

Eine Frau muss sehr wagemutig sein, um dem Ansinnen einer Zwangsverheiratung die Stirn zu bieten. Davon erzählt die Geschichte „Die Ersatzfrau“ (276 ff.) am Schluss.

Als Komonas ältere Schwester Lusolo, die mit dem Franzosen Frédéric verheiratet ist, plötzlich an Malaria verstirbt, gerät ihre jüngere Schwester als Ersatzlösung in den Focus der Großfamilie. Ihr Geliebter bittet um Zustimmung zur Heirat, was das Familienoberhaupt aber ablehnt, weil er sie an den Franzosen verheiraten will. Komona zeigt Mut und Entschlossenheit als sie daraufhin mit ihrer Familie bricht: „Onkel bei alle Respekt vor Dir und der Familie: … Du kannst alle Gesetze und Traditionen heraufbeschwören. Ich heirate diesen Alkoholiker nicht.“ (307)

Am Schluss der Lektüre drängt sich ein wenig die Frage auf, wieviel kriminelles Potential in der afrikanischen Großfamilie tatsächlich steckt und ob die Feststellung im Nachwort, dass „sicherlich Rücksichtslosigkeit und Betrug zum Spektrum der Verhaltensweisen (gehören)“ (318) ausreicht, um das Phänomen erschöpfend zu erklären oder eher eine Bagatellisierung darstellt.

Alles in allem empfindet man das aber nicht als Mangel, dass das Autorenpaar darauf keine Antwort sucht und konsequent bei dem gewählten Ansatz der Kurzgeschichten über die afrikanische Großfamilie, von denen „jede einen wahren Kern (hat)“ (317), bleibt und nicht abschweift in Bezüge zu etwaigen arabischstämmigen Großfamilien in Deutschland oder anderswo, denen derzeit aus aktuellem Anlass (zum Beispiel im Zusammenhang mit Clanmilieus und organisierter Kriminalität) nicht nur medial eine große Aufmerksamkeit zuteilwird. Der Rezensent empfindet es als wohltuend, dass dieser Diskurs erst gar nicht geführt wird, denn das hätte mit Sicherheit den Rahmen des Buches gesprengt und den Leser eher verwirrt als aufgeklärt. Im Nachwort erhält dieser deutlich mehr als nur eine Zusammenfassung oder eine Zustandsbeschreibung vergangener oder aktueller Transformationsprozesse innerhalb der afrikanischen Gesellschaft. Die Werte, die in der afrikanischen Großfamilie gelten sind nach wie vor sehr zählebig, erodieren von Generation zu Generation nur allmählich. Neues tritt hinzu. Obwohl mittlerweile viele traditionelle Regeln in gesetzliche Vorgaben und Kodexe gegossen sind, finden sich immer wieder Wege diese auch zu umgehen.

Denjenigen, die vorhaben sich beruflich oder privat erstmals längere Zeit nach Afrika zu begeben, kann das Buch nur empfohlen werden, um sich rechtzeitig mit der Realität „vor Ort“ vertraut zu machen, keinen Illusionen zu unterliegen und den Blick dafür zu schärfen, was sie möglicherweise erwartet.

Die Kurzgeschichten bieten jedoch nicht nur solchen Interessenten Einblicke in die afrikanische Gesellschaft, sondern sind eine unterhaltsame, leicht verständliche Lektüre für jedermann. Fazit: Die (zu)treffenden Anekdoten, die das „System“ Großfamilie im Guten wie im Schlechten bloßlegen, enthalten viel Wahres und schaffen Transparenz, ein prächtiges Mosaik, farbenfroh und geistreich! Teils mit Sarkasmus, teils mit (manchmal bitter-schwarzem) Humor werden an Hand gut ausgewählter Fabeln, in denen viel Lebensweisheit steckt, wesentliche Verhaltens- und Beziehungsmuster innerhalb der Großfamilie ohne übertriebene Verallgemeinerungen anschaulich auf den Punkt gebracht. Im wahrsten Sinne des Wortes: Fabelhaft!

Zu den Autoren:

Faida Tshimwanga

geboren in Kinshasa, lernte sie in einer Großfamilie früh Polygamie, Brautgeld, Gewalt und patriarchalisches Verhalten kennen. Darin sieht sie die Ursache für viele Fehlentwicklungen in ihrer Heimat. Sie setzt sich mit ihren Bildern und Texten für Frauenrechte ein.

Joachim Oelßner

wurde in Leipzig geboren und studierte an der Leipziger Universität Afrikanistik/Ökonomie. Seither engagiert er sich für die Zusammenarbeit mit Afrika. Viele Jahre lebte er in Afrika, auch in der DR Kongo.

Beide sind in der Deutsch-Afrikanischen Gesellschaft e.V. (DAFRIG) aktiv.

Thomas Friedländer


Faid Tshimwanga, Joachim Oelßner: Großfamilien-Bande.
Kurzgeschichten aus der DR Kongo.

Neobooks 2021, 319 Seiten.

Bezug über Amazon; als Taschenbuch für 12,99 € und als E-Book für 6,49 €