Viel alter Wein in nicht ganz so neuen Schläuchen

Ein Kommentar zum neuen Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Gruppe afrikanischer, karibischer und pazifischer Staaten
von Arndt Hopfmann*

Das Cotonou-Abkommen, das die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den EU-Staaten, insbesondere den ehemaligen Kolonialmetropolen, die heute EU-Mitgliedsländer sind bzw. (wie Großbritannien) waren, und ihren früheren Kolonien in Afrika, in der Karibik und im pazifischen Raum regelt, sollte bekanntlich am 29. Februar 2020 enden. Deshalb finden seit September 2018 Verhandlungen über eine Nachfolgevereinbarung statt. Diese begannen ziemlich zäh, kamen dann wegen der Europawahlen und der Neukonstituierung der Europäischen Kommission fast zum Stillstand und erlebten Anfang 2020 einen fulminanten Neustart, nach dem sich die Ereignisse förmlich überschlugen – seit Mitte Juni 2020 liegt ein umfassender Vertragsentwurf vor, der auf den ersten Blick zwar wenig Neues, aber auch Bemerkenswertes enthält.

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Am Rande der UN-Vollversammlung wurde Ende September 2018 der Verhandlungsauftakt zu einem ‚Post-Cotonou-Abkommen‘ vollzogen. Bei dieser Gelegenheit verkündeten der damalige Verhandlungsführer der Europäischen Union (EU), Neven Mimica, und der Chefunterhändler der damaligen Gruppe afrikanischer, karibischer und pazifischer Staaten (AKP-Staaten), Robert Dussey, unisono, dass ihr gemeinsames Ziel die Umwandlung der über Jahrzehnte immer wieder modifizierten vertraglichen Partnerschaft in eine „moderne politische Allianz“ sei. Seitdem verhandelten die Delegationen zwar, aber infolge des politischen Stillstands in der EU – in Verbindung mit den Europawahlen und der nachfolgenden Neukonstituierung der Europäischen Kommission – tat sich lange nicht viel.

Erst Anfang Februar 2020 ermöglichte die Ernennung von Jutta Urpilainen zur neuen EU-Chef-Unterhändlerin quasi einen Neustart der Verhandlungen. Von da an überstürzten sich beinahe die Ereignisse. Zunächst wurde das eigentlich am 29. Februar 2020 auslaufende Cotonou-Abkommen bis Ende 2020 verlängert. Dann trat ab April das Ende 2019 überarbeitete Georgetown-Abkommen** inkraft, im Zuge dessen sich die bisherige AKP-Staatengruppe in „Organisation Afrikanischer, Karibischer und Pazifischer Staaten“ (Organization of African, Caribbean and Pacific States – OACPS) umbenannte. Schließlich wurde – trotz Corona Epidemie „through virtual means“ – bis zum 9. Juni ein nahezu vollständiger Vertragsentwurf erarbeitet, der nunmehr einer finalen Überarbeitung durch die verhandelnden Seiten harrt und offenbar schon im Herbst 2020 paraphiert werden soll, um Anfang 2021 vorläufig inkraft gesetzt zu werden.

Das eigentlich Erstaunliche an diesen Vorgängen ist der Umstand, dass sich die EU und die OACP-Staaten so rasch auf einen gemeinsamen Entwurf einigen konnten, obwohl am Beginn alles auf ein zähes und langwieriges Ringen um Details hindeutete. Dass diese schnelle Einigung möglich wurde, lässt sich nur mit einem beiderseitig – von der Corona-Pandemie möglicherweise befeuerten – äußerst pragmatischen Vorgehen erklären, dem allerdings auch (fast) jede Ambition für Erneuerung und Fortschritt geopfert wurde – mit anderen Worten: der Übergang zu einer „modernen politische Allianz“ ist misslungen.

Dass dem so ist, zeigt sich darin, dass das neue Abkommen hinsichtlich Geltung und Prozedere dem Vorgänger gleicht. Es soll 20 Jahre gelten und ggf. um fünf Jahre verlängert werden. Damit ist klar, dass es sich (noch immer) um eine Vereinbarung zu einer besonderen Form von Zusammenarbeit und nicht um eine Allianz auf gleicher Augenhöhe handelt. Eine möglicherweise nicht ganz unerhebliche Änderung im Format besteht darin, dass das neue Abkommen drei „Protokolle“ jeweils spezifisch für die EU-Beziehungen mit Afrika, der Karibik und den pazifischen Staaten enthält.

Die inhaltlichen Schwerpunkte sind zwar begrifflich „modernisiert“, aber im Kern handelt es sich um Fortschreibungen des Altbekannten. Der Wertekanon ist der seit langem übliche: „Frieden, Demokratie; Menschenrechte, Rechtsstaat, Geschlechtergerechtigkeit, nachhaltige Entwicklung, Umweltschutz und Kampf gegen den Klimawandel“; nebst Verweis auf einschlägige internationale Verträge und Absichtserklärungen wie zum Beispiel die Vereinbarungen der Klimakonferenz von Paris oder die UN-Deklaration zu den globalen Zielen nachhaltiger Entwicklung.

Was jedoch auffällt ist die ‚Sprache‘. Es wird tunlichst vermieden, konflikt- und dissensbeladene Reizworte zu benutzen. Stattdessen ist man bemüht, modern-alternatives Vokabular zu übernehmen. Der zum Unwort verkommen Begriff „Freihandel“ kommt nicht ein einziges Mal vor (außer im Afrika-Protokoll, dort, wo es um die Kontinentale Afrikanische Freihandelszone geht). Auch das einstige Lieblingskind „Wirtschaftspartnerschaftsabkommen“ kommt nur im Zusammenhang mit der Einsetzung von Mechanismen zur Kontrolle ihrer Auswirkungen vor. „Entwicklung“ wird nur noch als „nachhaltige“ thematisiert, „Wachstum“ ist immer „inklusiv“ und „inklusiv“ bedeutet vor allem „geschlechtergerecht“, d.h. Einbeziehung von „Frauen und Mädchen“. Von den gefürchteten, notorischen Investor-Staat-Schiedsgerichten ist in dieser Form gar nicht mehr die Rede.

Das bedeutet jedoch keineswegs eine Abkehr vom Altbekannten, denn natürlich sollen „nachhaltige Entwicklung“ und „inklusives Wachstum“ auch weiterhin mit der Befolgung der Handelsregeln, wie sie die (neo-liberalen) Welthandelsorganisation vertritt, sowie mittels Good Governance und Public Private Partnerships erreicht werden. Weiterhin soll der informelle Sektor „formalisiert“ werden, „Ersparnisse“ sollen die Grundlage für Investitionen sein und Privatinvestitionen sollen durch geeignete Rechtsinstitutionen, die nicht mehr Schiedsgerichte heißen, geschützt werden.

Auf all diesen Feldern wurde – nicht selten durch geschickte Begriffswahl – offenbar weitgehend Einigkeit erzielt. Jedoch verraten die im Entwurf in [Klammern] gesetzten Passagen auch Themenfelder, bei denen die Ansichten noch deutlich auseinander gehen. Das betrifft vor allem Fragen der staatlichen Souveränität – sowohl in Hinblick auf strategische sozio-politische Orientierungen als auch hinsichtlich der Staatsbürgerschaft bzw. der Mobilität von Staatsbürgern (Migration).

Wenn es um die Souveränität bei (wirtschafts-)politischen Entscheidungen geht, haben die OACP-Staaten wohl aus bitteren Erfahrungen und aus der Anschauung aktueller (Sanktions-)Beispiele gelernt, dass es vor allem auf das Verbot von Zwang, Erpressung und Einmischung in innere Angelegenheiten ankommt. Deshalb finden sich viele Stellen, wo das Prinzip nationalstaatlicher Souveränität und die Zurückweisung einseitiger Zwangsmaßnahmen oder deren Androhung ausdrücklich betont werden.

In Bezug auf Migration haben sich die OACP-Länder zwar auf die von der EU forcierte Unterscheidung zwischen „legal“ und „illegal“ eingelassen, sind aber auch hier bemüht, die „Kontrolle“ zu behalten und Menschenrechtsstandards einzufordern. So stellen sie dem EU-Ansinnen, dass „illegale“ Personen „ohne weite Formalitäten“ von den (vermeintlichen) Herkunftsstaaten zurückgenommen werden sollen, beharrlich entgegen, dass eine Staatsbürgerschaft der betreffenden Personen erst zweifelsfrei festzustellen sei und dass bis dahin die (EU-)Länder, in denen sich die „Illegalen“ aufhalten, diese würdig und menschenrechtskonform zu behandeln hätten.

So elementar wichtig diese Dissenspunkte auch scheinen mögen, sie werden sicherlich auf diplomatischem Wege – und sei es durch begrifflichen Einfallsreichtum – überwunden werden, so dass das neue EU-OACPS-Abkommen wohl schon bald paraphiert wird. Das ist trotz allen wünschenswerten Fortschritts, der offenbar nicht erreicht wird, nicht nur schlecht. Denn es finden sich auch wichtige Regelungen, die heute angesichts des grassierenden US-amerikanischen Unilateralismus bewahrenswert erscheinen. Dazu gehört das Festhalten am Multilateralismus und nicht zuletzt das Bekenntnis zum Prinzip der bevorzugten Behandlung von Entwicklungsländern (Special and Differential Treatment) sowie die gegenseitige Verpflichtung zur Konfliktlösung durch Verhandlungen – dabei sollten, wenn es nach den OACP-Staaten geht, auch die Parlamente eine Rolle spielen; auch wenn die EU-Kommission offenbar nicht allzu viel von einer Zusammenarbeit auf parlamentarischer Ebene hält (wahrscheinlich, weil sie dem Europäischen Parlament eher misstraut…).

*    Arndt Hopfmann ist Mitglied der dAfrig und promovierter Entwicklungsökonom mit den Schwerpunkten Entwicklung, Welthandel sowie Geld- und internationale Währungsbeziehungen.

**  Das Georgetown-Abkommen wurde am 6. Juni 1975 in Georgetown (Hauptstadt Guyanas) geschlossen und trat am 12. Februar 1976 inkraft. Es gilt als Gründungsdokument der Gruppe afrikanischer, karibischer und pazifischer Staaten (Organisation of the African, Caribbean and Pacific Group of States – ACP). Eine überarbeitete Version wurde im Dezember 2019 verabschiedet – siehe auch: http://www.acp.int/content/acp-summit-endorses-revised-georgetown-agreement.

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